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Wie ist ein Leben mit chronischen Schmerzen?

In unserem Interview wollen wir Ihnen die Schmerzpatientin Alena Wiechert vorstellen. Ihr Beispiel zeigt, dass Schmerz keineswegs nur im Alter beeinträchtigt. Erfahren Sie mehr darüber, wie sie ihren Alltag trotz erheblicher Einschränkungen meistert und welche Erkrankung der Grund dafür ist.

Frau Wiechert ist mit 32 Jahren erwerbsunfähig – ein normaler Alltag ist wegen der Schmerzen undenkbar.


Frau Wiechert, können Sie sich und Ihre Situation kurz umreißen?

Ich bin Alena, 32 Jahre alt, und seit ca. 4 Jahren an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom) erkrankt. Ich hatte auch vorher schon gesundheitliche Probleme wie Migräne und Endometriose, konnte aber gut damit leben. Seit einem Infekt Anfang 2020 ging es dann schubweise bergab. 

In den ersten beiden Jahren mit ME/CFS konnte ich noch in meinem Beruf als Versicherungskauffrau arbeiten. Seit Anfang 2024 erhalte ich Rente wegen voller Erwerbsminderung. 

Was ist ME/CFS und was hat das mit Schmerzen zu tun?

ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oftmals durch eigentlich "harmlose" Infekte mit bestimmten Krankheitserregern ausgelöst wird. Das können bakterielle Infekte sein, aber auch Viren wie das Eppstein-Barr-Virus, Influenza-Viren oder Sars-CoV2. Aber auch körperliche Traumata, die z.B. durch schwere Unfälle verursacht werden, können ME/CFS nach sich ziehen. 

Die Zahl der Betroffenen in Deutschland wurde vor der Corona-Pandemie auf etwa 300.000 geschätzt. Inzwischen sind es ca. 500.000 Betroffene, etwa zwei Drittel davon Frauen – wie bei vielen Autoimmunerkrankungen.

Die Krankheit selbst ist hochkomplex und verläuft sehr individuell, bisher ist der Krankheitsmechanismus von ME/CFS nicht abschließend geklärt. Die Bezeichnung "Chronisches Fatigue Syndrom" beschreibt die Schwere der Erkrankung meiner Ansicht nach leider nicht annähernd. ME/CFS ist viel mehr als "nur" Erschöpfung.

Das Symptom Fatigue ist nur ein Steinchen in einem großen Mosaik. 
Kardinalsymptom von ME/CFS ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, die zu Post Exertioneller Malaise (PEM) - einer massiven Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung - führt. Schwerstbetroffene können sich nicht einmal im Bett umdrehen, ohne PEM zu erleiden.

Die Schmerzen, die im Zusammenhang mit ME/CFS auftreten, sind sehr vielseitig. Von Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen, über Muskel- und Gelenkschmerzen bis zu Schmerzen aufgrund von Hypersensivitäten ist da alles drin. Die Hypersensivitäten äußern sich vor allem als Überempfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen, also Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, aber auch haptische Sensitivität beispielsweise bei als “rau” oder “brennend” empfundenen Stoffen auf der Haut. Diese vergleichsweise geringen Umwelteinflüsse, können hier für ein erhebliches Schmerzerleben sorgen. Oftmals bleibt einem dann nur noch übrig, diese Reize abzustellen, also sich beispielsweise in abgedunkelte, ruhige Räume zurückzuziehen. Da braucht man nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass dies oftmals zu einer Isolation von Mitmenschen und Außenwelt führt.

Erleben Sie durch die Schmerzen Einschränkungen im Alltag?

Meine eigenen Schmerzen würde ich in zwei Kategorien unterteilen: Schmerzen, die dauerhaft da sind und Schmerzen, die bei Belastungen auftreten. Je nach Art und Intensität der vorangehenden Belastung treten die "PEM-Schmerzen" an unterschiedlichen Stellen und unterschiedlich stark auf. 

Während geistige Anstrengung bei mir meist zu Migräneattacken führt, löst körperliche Aktivität eher Gelenk- und Muskelschmerzen aus. Auch das Immunsystem spielt dann verrückt. Ich bekomme Hals- und Ohrenschmerzen, ein heftiges Grippegefühl und Gliederschmerzen. 

Wenn ich mich zu sehr überfordere, sind die nächsten Tage eigentlich schon gelaufen und ich kann kaum noch etwas tun. Ich bin dann tatsächlich oft auf Schmerzmittel und Bedarfsmedikation angewiesen.

Haben Sie besondere Strategien, um den Alltag zu bewältigen?

Für ME/CFS gibt es bisher leider keine Behandlung. Man kann mit verschiedenen Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln die Symptome lindern, das sind aber leider nur Tropfen auf den heißen Stein.

Im Grunde geht es im Alltag immer darum, Überlastung also PEM zu vermeiden. Wo die persönliche Belastungsgrenze liegt, ist bei den Patienten unterschiedlich. In meinem Fall stellt eine halbe Stunde konzentrierte Arbeit am Bildschirm und Kochen schon das Tageslimit dar. Die Körper der Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, genug Energie zur Verfügung zu stellen. Sie können sich das vorstellen wie bei einem Handy mit kaputtem Akku. Die Batterie lädt sich nicht mehr auf und wenn der Akku leer ist, geht nichts mehr.

Der menschliche Körper hat zwar so etwas wie einen Notgenerator - Adrenalin. Das ist aber keine Lösung, da eine Adrenalinausschüttung in Stresssituationen zwar kurzfristig die Symptome kaschiert und wir wie eine gesunde Person “funktionieren”. Allerdings ist das nur ein kurzer Effekt, der nur vorübergehend anhält und letztlich viel mehr Energie verbraucht. Das ist ein zweischneidiges Schwert: Wir können unter Adrenalin eine gewisse Zeit funktionieren und gesund wirken, aber sobald der Schub vorüber ist, folgt der Crash. Im schlimmsten Fall schädigt ein Crash unseren bereits kaputten Akku dauerhaft und wir landen in einem Teufelskreis, die Krankheit schreitet weiter fort und wir haben danach dauerhaft weniger Energie zur Verfügung als vorher.

Das Zauberwort im Alltag heißt daher PACING. Das bedeutet, seine individuellen Energiereserven einzuschätzen lernen und DARUNTER zu bleiben. 

Das heißt auch Prioritäten setzen und nach Alternativen suchen. Um zum Beispiel anstrengende Einkäufe zu vermeiden, lasse ich mir die meisten Einkäufe inzwischen liefern und hoffe, dass ich nichts vergessen habe. Spontan noch mal schnell im Supermarkt vorbei gehen und holen, was ich vergessen habe, ist einfach nicht drin.

Die wichtigste Stütze in meinem Alltag ist mein Lebensgefährte, er übernimmt viele der täglichen “Kleinigkeiten”, die bei mir ansonsten in Summe zu Überlastungen führen würden. Fast alle Betroffenen von ME/CFS sind auf solche Alltagshelfer angewiesen, seien es Partner, Familie oder Pflegedienstleister/Haushaltshilfen. Dabei können kleine Dinge wie jemand, der die Kinder in Schule/Kindergarten bringt oder eben mal im Haushalt hilft eine enorme Hilfe sein. Leider ist es nicht immer einfach, solche Hilfen auch von den Leistungsträgern finanziert zu bekommen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Was wir brauchen, sind Aufklärung, Versorgungsstrukturen und Forschung. Postinfektiöse Syndrome wurden von der Medizin über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt. Die wenigsten Ärzte haben je davon gehört, an Universitäten taucht ME/CFS nicht im Lehrplan auf. Das führt leider oftmals dazu, dass Betroffene als psychisch krank eingestuft oder überhaupt nicht ernst genommen werden. Häufig wird dann auch zu Aktivierung geraten, was bei allen anderen Erkrankungen grundsätzlich eine gute Idee ist. Nur bei ME/CFS eben nicht.

Solange die breite Masse der Ärzte diese Krankheit nicht kennt, stehen wir auf verlorenem Posten. Mein Wunsch ist daher: Sprechen Sie über das Thema! 
Machen Sie die Menschen sichtbar, die in schallisolierten, abgedunkelten Zimmern liegen und nicht für sich selbst kämpfen können. Awareness hilft!


Hier finden Sie nützliche Links:

Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/

Fatigatio e.V.: https://www.fatigatio.de/me/cfs

Fatigue Centrum der Charite: https://cfc.charite.de/

Millions Missing: https://www.millionsmissing.de/